Ägypten war für Menschen mit einer überschaubaren Liebe zu Kriechtieren schon immer ein nervenaufreibendes Pflaster. Skorpionen, Schlangen, Krokodile...alle möglichen höllischen Kreaturen tummeln sich im Nil, an seinen Ufern und sogar in der Wüste. Während Krokodile aus ägyptischen Märchen bekannt dafür sind, gerne Liebhaber von untreuen Ehefrauen zu verschlingen (wir werden über dieses Märchen im Podcast noch berichten), ist das Verhältnis der alten Ägypter gerade zu Schlangen ambivalent. Der König trägt die Uräusschlange an seiner Stirn, in Tempeln begegnen uns Uräenfriese, die Mehen-Schlange umringelt Re in seiner Sonnenbarke und beschützt ihn...auf der anderen Seite ist die Schange Apophis der ärgste Widersacher des Sonnengottes und muss folgerichtig in der Nacht besiegt und zerstückelt werden. Auch Hieroglyphen von Schlangen wurden in Texten gelegentlich durchgestrichen, damit ihr Bild keinen Schaden anrichten konnte. Ähnlich verhielt es sich mit Skorpionen, deren Stich ebenso tödlich sein konnte, wie der Biss einer Schlange.
Während wir heute die Möglichkeit haben, die Giftwirkung mit Antiseren zu bekämpfen und die Symptome wie Kreislaufprobleme, Blutgerinnungsstörungen oder Lähmungen gezielt behandeln können, blieben dem altägyptischen Arzt bei Schlangenbissen und Skorpionstichen kaum Möglichkeiten. Der pBerlin 3038 kennt drei Rezepturen für Räucherungen bei Skorpionstichen, außerdem exisitert die Anweisung, das "Skorpionskraut" in Bier oder Wein zu zerreiben und einzunehmen. Leider ist völlig unklar, welche Pflanze mit dem Skorpionskraut gemeint sein könnte.
Der Ägypter wusste sich natürlich dennoch zu helfen. Wie schon erwähnt verschwimmen in der ägyptischen Medizin manchmal die Grenzen zur Magie, und göttliche Hilfe kann ja schließlich nie schaden. So kommt es, dass ab der 2. Hälfte des Neuen Reiches (um 1300 v.Chr.) sogenannte „Horusstelen“ gefertigt wurden. Das größte erhaltene Exemplar dieser Horusstelen ist die Metternichstele.
Metternichstele, Metropolitan Museum, New York
Inv.Nr. 50.85
um 350 v.Chr., Herrschaft Nektanebos II.
Höhe: 83,5 cm
Breite: 33,5 cm
Im zentralen Feld der Stele sehen wir den Gott Horus als Kind, der auf Krokodilen steht, und in seinen Händen Löwen, Schlangen und Skorpione hält. Begleitet wird er vom Gott Thot, der auch für die Heilkunst zuständig ist, und seiner Mutter Isis, "der Zauberreichen". Die Texte der Vorder- und Rückseite der Stele enthalten Zaubersprüche zur Heilung von giftigen Stichen und Bissen, Erzählungen darüber, wie Thot und Isis das Horuskind selbst von Gift heilten, sowie eine Erzählung, wie Isis das Kind einer Frau nach einem Skorpionstich heilte.
Ihr Herz war betrübt, denn sie wusste nicht, ob das Kind leben würde. Sie ging in die Stadt unter Wehklagen, doch niemand kam ihr zu Hilfe. Mein Herz war betrübt wegen ihres Kindes. Um den Unschuldigen leben zu lassen rief ich zu ihr: "Komm zu mir! Siehe, der Mund ist Leben. Ich bin die wissende Tochter, die das Gift vertreibt durch ihren Ausspruch, denn mein Vater unterrichtete mich zu wissen. [...] Möge das Kind leben, und das Gift sterben. Dann möge Horus gesund sein für seine Mutter Isis, dann möge der gesund sein, der genau so leidet."
Die Ägypter vertrauten also darauf, dass Isis und Thot auf der Basis dieser mythologischen Präzedenzfälle auch ihnen helfen konnten, wenn sie in einer derart misslichen Lage waren. Doch wie konnten die Horusstelen ihre Wirkung entfalten?
Von dieser und anderen Stelen wissen wir, dass sie in Tempeln aufgestellt wurden und die Heilung somit auch dort vonstatten ging. Nun wurden nicht nur die Beschwörungsformeln wiederholt, die Isis und Thot zum Schutz des Horuskindes aufsagten; zugleich wurde Wasser über die Horusstelen gegossen, das im unteren Bereich der Stele wieder aufgefangen und dem Patienten zu trinken gegeben wurde. Die Stele selbst erzeugte also das Heilmittel durch die magische Kraft, die den Bildern und hieroglyphischen Texten innewohnten.
Nicht nur die Ägypter waren scheinbar überzeugt von der Macht Horus' in Bezug auf Skorpionstiche: Aus dem 5. Jhd. n.Chr. stammt ein griechischer Papyrus, der einen Schutzzauber gegen Skorpione und Schlangenbisse enthält und ein Haus sowie dessen Bewohner schützen soll. Der Zauber der offenkundig christlichen Familie ist gerichtet an die Heilige Jungfrau Maria, Christus, Gott...und Horus.
Literatur
- James P. Allen, The Art of Medicine in Ancient Egypt, New York, 2005.
- Karl Preisendanz, Papyri graecae magicae, Band II, Leipzig, 1931 (dort pp. 190-191, P3).
Eigene (teils freie) Übersetzung des Spruchs 6 der Metternichstele.
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