Wenn wir uns die altägyptische Gesellschaft vorstellen, mit ihren Verwaltungsbeamten und Königen, von denen wir so viel wissen, neigen wir dazu, die „kleinen Leute“ unter den Tisch fallen zu lassen. In keinem anderen Bereich dürfte sich das so sehr rächen, als wenn wir über das Thema „Lebenserwartung“ sprechen.
Generell stoßen wir schnell an die Grenzen der Wissenschaft, wenn es um die Bevölkerung des Alten Ägypten geht. Nicht nur, weil kaum während der 3000-jährigen Geschichte die Bevölkerungszahlen konstant geblieben sein dürften, sondern weil wir vor der griechisch-römischen Zeit kaum Anhaltspunkte haben, auf die wir uns berufen könnten. Einen regelmäßigen Zensus gab es vorher nicht, nur sporadische Erfassungen der arbeitsfähigen Bevölkerung, die für den Militärdienst beispielsweise herangezogen wurden. Ziemlich sicher wurden hierbei weder Frauen, noch Kinder, noch „die älteren Semester“ berücksichtigt.
In griechisch-römischer Zeit gab es jedoch eine Neuerung, die uns recht bekannt vorkommen dürfte: die „Kopfsteuer“. Daraus ergab sich, dass jeder Haushalt einmal im Jahr eine Aufstellung seiner Mitglieder abgeben musste, auf deren Grundlage die Steuer berechnet wurde. Auch hier wissen wir jedoch nicht, ob Kinder unter 14, die nicht steuerpflichtig waren, mit angegeben wurden. Im Laufe der ägyptologischen Wissenschaft kursierten jedenfalls Zahlen über die Gesamtbevölkerung Ägyptens, die einen schwindlig werden lassen: Die Spanne reicht von 5 Millionen bis 35 Millionen! Irgendwo dazwischen liegt also die Wahrheit; realistische Zahlen haben wir lediglich von Alexandria, das um 50 v. Chr. „die größte Stadt der Welt“ gewesen sein soll. Wir dürfen hier von einer Bevölkerungszahl von etwa 1,5 Millionen ausgehen.
Wie setzte sich diese Bevölkerung nun zusammen und welche Vermutungen können wir aus der Archäologie und den medizinischen Texten ableiten?
Durch die große Zahl an Zaubersprüchen für die Gesundheit von Mutter und Kind können wir uns denken, dass die Säuglingssterblichkeit sehr hoch gewesen sein dürfte. Das gleiche gilt für die Mutter im Wochenbett, was immer eine kritische Phase ist, und viele junge Ägypterinnen das Leben gekostet haben dürfte. Folgerichtig lag die Lebenserwartung für Frauen bei etwa 30 Jahren, bei Männern immerhin bei 35…wobei auch das keine Zahl ist, die Jubelschreie auslösen dürfte!
Diese Zahlen lassen sich vor allem aus der Archäologie ableiten. Bei Ausgrabungen von Friedhöfen und Nekropolen lassen sich oft anhand von Skeletten grobe Altersstufen ableiten. Leider sind diese Analysen mit einer großen Bandbreite versehen, im Alter zwischen 25 und 50 ist es oft nicht leicht, ein verlässliches Alter anzugeben. Jedoch erscheint die Schätzung auf die Lebenserwartung von 35 einigermaßen plausibel.
Interessant ist, dass die Analysen von größeren Friedhöfen eine perfekte Alterspyramide (ich bitte, diesen Wortwitz zu entschuldigen…) zeigen; die ägyptische Bevölkerung scheint in ihrer Zusammensetzung recht stabil gewesen zu sein, nicht übermäßig kinderreich (was eine Bevölkerung von 35 Millionen absurd erscheinen lässt), aber dennoch ausgewogen zwischen „produktiver“ Bevölkerung und einigen „Alten“ (wobei alles über 50 als wirklich alt anzusehen ist!).
Natürlich war das Leben eines Arbeiters geradezu prädisponiert für einen vorzeitigen Tod; wir dürfen allerdings nicht außer Acht lassen, dass auch Könige keineswegs so gut versorgt waren, dass sie sehr alt wurden. Ramses II. mit seinem Alter von gut 90 Jahren war definitiv eine Ausnahme, ebenso wie Tutanchamun, der nur 18 wurde. Dennoch wurden auch Könige selten älter als 45 oder 50 Jahre, zumindest, wenn man die Könige des Neuen Reiches betrachtet, zu denen beide zählen. Wir neigen scheinbar zu sehr dazu, uns Könige als „alte Männer“ vorzustellen…
Ein letzter interessanter Punkt ist, dass die Ägypter ihr Lebensalter nur selten nannten, es sei denn, sie wurden für ägyptische Maßstäbe sehr alt. Das „ideale“ Alter, dass ein Zeichen für Weisheit und göttliche Gunst war, lag übrigens bei 110 Jahren.
Im „Großen demotischen Weisheitsbuch“ finden wir Auskunft darüber, wie das Leben in seiner gottgegebenen Zeitspanne optimalerweise strukturiert sein sollte:
„Der Mensch verbringt 10 Jahre, indem er jung ist, bevor er Leben und Tod erkennt. Er verbringt weitere 10 Jahre, indem er die Arbeit und die Lehre annimmt, von der er leben wird. Weitere 10 Jahre, indem er spart und Besitz erwirbt, um davon zu leben. Er verbringt weitere 10 Jahre bis zum reifen Alter, bevor sein Herz Einsicht erlangt. Bleiben 60 Jahre in der gesamten Lebenszeit, die Thot dem Mann Gottes zugeschrieben hat. Einer unter Millionen ist es, der sie erreicht, wenn der Gott segnet, wenn das Schicksal gewogen ist.“
Wer bibelfest ist, der fühlt sich beim letzten Satz vielleicht an Genesis 6,3 erinnert: „Da sprach der Herr: Mein Geist soll nicht für immer im Menschen bleiben, weil er auch Fleisch ist; daher soll seine Lebenszeit 120 Jahre betragen.“
Offenbar waren sich die Götter im Altertum zumindest darüber ziemlich einig, wie alt so ein Mensch denn werden durfte…
Literatur
- J. Kraus, Die Demographie des Alten Ägypten. Eine Phänomenologie anhand altägyptischer Quellen (Dissertation Göttingen 2004).
- F. Hoffmann, J.F. Quack, Anthologie der demotischen Literatur, Berlin 2018. (Übersetzung des Großen demotischen Weisheitsbuches, S. 272ff.)
Titelbild
Ausschnitt der Stele EA1168, Britisches Museum, London
© The Trustees of the British Museum, tomb-relief | British Museum
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