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Sarah

Der große Onkel

Aktualisiert: 10. Okt. 2021

Bei manchen Körperteilen fällt einem erst auf, dass sie wichtig sind, wenn man sie nicht mehr hat. Ganz besonders trifft das auf den großen Zeh zu. Ich kenne einige Menschen, die sagen, dass sie Zehen und Füße sogar ausgesprochen unattraktiv und abstoßend finden; diese Abwertung haben diese übermäßig beanspruchten Körperteile nun wirklich nicht verdient.

Zehen, vor allem der Große, verrichten täglich eine Arbeit, von der wir meistens überhaupt nichts mitbekommen: Bei jedem Schritt stabilisieren die Großzehen unsere Schritte und helfen uns dabei, die Balance zu halten. Nur so können wir sicher gehen und stehen und unseren Fuß optimal abrollen, ohne dass wir humpeln und unsere Gelenke falsch belasten. Auch Sport oder Tanzen wären ohne große Zehen quasi unmöglich.

Bei manchen Krankheitsbildern ist es nun leider notwendig, dass Zehen amputiert werden müssen. Es handelt sich dabei oft um Infektionen, die eine Blutvergiftung auslösen könnten, wenn sie auf den gesamten Körper übergehen. Mit der Abnahme des betroffenen Körperteils kann diese Blutvergiftung verhindert werden. Außerdem können Durchblutungsstörungen, wie etwa bei Diabetes, dazu führen, dass die Zehen nicht mehr ausreichend mit Blut und Sauerstoff versorgt werden, und das Gewebe abstirbt.


Dass die ägyptischen Ärzte die Möglichkeiten hatten Operationen durchzuführen wissen wir, weil entsprechendes Werkzeug dargestellt und gefunden wurde. Leider existieren keine schriftlichen Anweisungen über das genaue Prozedere bei chirurgischen Eingriffen. Dass Infektionen, Durchblutungsstörungen und wahrscheinlich auch Verletzungen Amputationen notwendig gemacht haben dürften, ist allerdings unstrittig: Einige Mumien wurde mit fehlenden Gliedmaßen gefunden, die im Rahmen der Einbalsamierung ersetzt wurden durch Prothesen, um den Körper für das Jenseits wieder vollständig zu machen. Diese Prothesen waren teilweise nur sehr rudimentär und bestanden zum Beispiel aus Stoff, der mit Sägespänen gefüllt wurde. Jedoch gibt es mittlerweile Belege für Prothesen, die den Patienten zu Lebzeiten zur Verfügung gestellt wurden, um die Funktionsfähigkeit des Körpers tatsächlich wiederherzustellen.


Ein Beispiel für eine solche Prothese wurde bei einer Ausgrabung in Theben-West gefunden und auf die 21. oder 22. Dynastie (etwa 1000-750 v. Chr.) datiert. Die Großzeh-Prothese ist an der Mumie einer etwa 55-jährigen Frau mit dem Namen Tabaketenmut befestigt, der zu Lebzeiten der Zeh amputiert werden musste. CT-Aufnahmen ergaben Hinweise auf eine leichte Osteoporose der Frau, sowie eine Arteriosklerose, die wie heute bei Diabetikern mit Durchblutungsstörungen einhergehen kann.



Ägyptisches Museum Kairo

JE 100016A

Fundort: TT 95, Scheich-Abd-el-Gurna

aus: Finch 2011.







Die Prothese selbst besteht aus 3 Holzteilen, die mit Lederbändern zusammengehalten werden. Der große Zeh ist sehr detailgetreu gearbeitet, mit einer Andeutung der knöchernen Struktur und sogar einem herausgearbeiteten, farblich abgesetzten Zehnagel. Am Fuß ist die Prothese mit Stoffbändern befestigt. Dass die Prothese tatsächlich genutzt wurde lässt sich daraus schließen, dass die Unterseite des Holzes Abnutzungsspuren zeigt.


Dieses Exemplar ist jedoch nicht das einzige seiner Art: Im Britischen Museums wird eine weitere Prothese aufbewahrt (siehe Titelbild), bei der lange nicht geklärt war, ob sie tatsächlich hätte verwendet werden können. Die Prothese ist zwar sehr lebensecht gearbeitet, besteht jedoch nur aus recht unstabiler Kartonnage, die sich möglicherweise sehr schnell abgenutzt hätte. Hier konnte die Experimentelle Archäologie jedoch für Aufklärung sorgen: Die beiden Prothesen wurden nachgebaut und zwei heute lebenden Probanden mit Großzeh-Amputationen zur Verfügung gestellt. Zusammen mit damals gebräuchlichen Sandalen ergab sich, dass beide Exemplare einen angenehmen Tragekomfort boten und dem Gang tatsächlich Stabilität verliehen. Überraschenderweise scheint das Holzmodell besonders gut abgeschnitten zu haben, obwohl das Material doch deutlich weniger flexibel ist. Und wieder einmal erstaunen uns die Alten Ägypter mit ihrem ausgeprägten Sinn für Praktikabilität…



Literatur

- Andreas G Nerlich, Albert Zink, Ulrike Szeimies, Hjalmar G Hagedorn, Ancient Egyptian prosthesis of the big toe, Lancet 2000; 356: 2176–79.

- Jacqueline FInch, The ancient origins of prosthetic medicine, Lancet 2011; 377: 548-549.


Titelbild

Zehenprothese aus Kartonnage, British Museum London, EA 29996, © The Trustees of the British Museum, Alter unbekannt.


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